Arzt-Geschichten (5): Aktionismus im Kreißsaal

Im fünften Teil meiner Arzt-Geschichten ist ein Geburtsstörer der Star. 

Ein heller, freundlich eingerichteter Kreißsaal in einer Münchner Klinik. Man fühlt sich wie in der Wellness-Abteilung eines 4-Sterne-Hotels. Medizin-Gerätschaften sind nicht zu sehen, ein bißchen Technik steht dezent herum. Keine Spur von der gekachelten Metzgerei-Atmosphäre, die Krankenhäuser so lieben. 

Meine Frau und ich sind hier, weil unser Sohn unmißverständlich angezeigt hat, daß er heute das Licht der Welt erblicken möchte. Der wohlige Dämmer im Bauch der Mutter genügt ihm nicht mehr. 

Auf der Welt ist er schon seit neun Monaten, seit der Empfängnis – die hat ja in dieser Welt stattgefunden. So langsam begreift das auch die westliche Pränatal-Medizin. Die alten Chinesen zählen unser Alter ab der Empfängnis – darin zeigt sich wahre Welt- und Lebenskenntnis –, denn wir leben ja schon während der Zeit im Mutterleib; womöglich sogar intensiver als später außerhalb. 

Die Natur tut, was sie seit Jahrmillionen tut: Sie bringt bei meiner Frau den Geburtsvorgang in Gang. Wir haben unsere Ruhe im Kreißsaal – außer uns und der Hebamme ist niemand da. Aus dem benachbarten zweiten Kreißsaal hören wir gedämpft Stimmen, Schritte und Geräusche. Es klingt aufgeregt und hektisch. „Not our cup of tea“, wie die Engländer sagen. Wir bleiben ganz bei uns. 

Plötzlich geht die Tür auf. Ein Milchgesicht im Arztmantel stürmt herein. Er verströmt eine emotionale Duftmischung aus „Ich bin wichtig“ und „Ich bin überfordert“. Das ist gefährlich. Dieser Bubi in Weiß, der es nicht für nötig erachtet, sich uns vorzustellen und der aussieht, als kenne er die weibliche Anatomie nur aus der „Bravo“, stürzt zum Monitor. 

Ein schneller Blick – dann ein gestöhntes „Oh!“. Meine Frau zuckt zusammen, verkrampft sich. Die Natur weicht von einer Sekunde zur anderen dem Terror des Durchschnittswerts. Irgendeine Zahl auf dem Monitor entspricht nicht den Sollwerten, die der Arzt für bedeutsam hält. Er hat kein Wort mit der Gebärenden gewechselt, ihr nicht in die Augen geschaut. Sie ist für ihn nicht wichtig. Wichtig sind ihm einzig die Werte auf dem Monitor. 

Jetzt glaubt der Arzt zeigen zu müssen, daß er hier der Bestimmer ist. Und das macht er so, wie er es gelernt hat: durch Aktionismus. Er zieht eine Spritze auf und geht zu meiner Frau. Nach wie vor nimmt er sie nicht als Subjekt wahr, sondern als Objekt seiner Handlungen. 

Er fragt nicht, er erklärt nicht – er verkündet: „Ich geb‘ ihnen jetzt eine Spritze, dann normalisiert sich das.“ Meine Frau antwortet klar und entschieden: „Nein, das will ich nicht!“ 

Nun wendet er sich – sichtlich genervt von dieser widerspenstigen Frau – an mich. Mit einer verschwörerischen Haltung, die besagt: Mal unter uns Männern, die wir nicht so unvernünftig und emotionsgetrieben wie die Frauen sind – bringen sie ihre Frau dazu, daß ich ihr die Spritze verpassen kann. Dann ist’s gut, und ich kann wieder in den anderen Kreißsaal rüber, wo es viel für mich zu tun gibt. 

Du Depp!, denke ich, und sage: „Wenn sie es nicht will, will sie es nicht.“ 

Damit ist der Arzt überfordert. Widerworte ist er nicht gewohnt. Wie kann jemand so vermessen sein, dem Rat-SCHLAG eines Arztes nicht zu folgen? Den Umgang mit solchen Menschen hat unser „Onkel Doktor“ im Studium nicht gelernt. Wie überhaupt den Umgang mit Menschen. Warum auch: Als Arzt hat man es mit Krankheiten zu tun – nicht mit Menschen  

Er knallt die Spritze aufs Tischchen, zischt dazu: „Dann halt nicht!“, verschwindet in den zweiten Kreißsaal – und ward nicht mehr gesehen. Konfliktunfähigkeit und Feigheit gehören auch zu seinen Qualifikationen. 

Kaum ist der Arzt weg, kommt nach und nach die Natur zurück in den Leib der Gebärenden, und es geschieht, was geschehen soll. Es wird eine komplikationslose Spontangeburt, wie es im Mediziner-Deutsch heißt. 

Die einzige Komplikation war der Arzt. Hätten wir ihn schalten und walten lassen, hätte er uns dieses einmalige Erlebnis versaut und dem Kind womöglich Schaden zugefügt – durch seine brav auswendig gelernte, aber lebensfremde „Expertise“.